Vittorio Brambilla im Portrait

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Irgendwann zwischen zwei abenteuerlichen Querfeldeinpartien hatte er sich den Spitznamen „Gorilla“ eingefangen, eine eigentlich nicht so ganz passende Charakterisierung, gilt der Gorilla doch unter Wissenschaftlern als friedlicher Pflanzenfresser. Aber die eher bullige Statur des Vittorio Brambilla, gepaart mit gelegentlich unkontrollierter Aggression muss doch hier und da Assoziationen an einen gereizten Menschenaffen geweckt haben, der wutschnaubend durch das Unterholz bricht.
In der Saison 1976 addierten die March-Formel-1-Mechaniker über 40 Brambilla-Crashs in Trainings- und Rennläufen, nahezu einen pro Veranstaltungstag. Am Nürburgring gingen die orange lackierten Fronthauben aus, sodass er im Rennen eine schmucklose weiße fuhr. In einer Trainingssitzung hatte er gerade die Boxengasse verlassen, umrundete die „Südkehre“ – und schmiss sofort in der zweiten Kurve, der „Nordkehre“, den March in den Fangzaun. 1977 mit dem Surtees wurden immerhin noch 22 Unfälle registriert, 1978 noch 18, aber das war die Saison, die er nicht mehr zu Ende fuhr. Die Mitgift seines Sponsors, des rührenden Signor Beta, deckte kaum die Schäden, die er anrichtete. Und Teamchef John Surtees hielt deprimiert fest: „Es tut weh zu sehen, wie liebevoll die Mechaniker das Auto vorbereiten, es polieren, es geht raus und…bang!“

Abgesehen davon, dass Vittorio Brambilla die Rennwagentechnik faszinierte, war die schiere Raserei auch abseits der Renn-strecken lange Zeit sein Lebensinhalt. Auf einer südafrikanischen Landstraße wurde er einmal mit 128 mph (205,82 km/h) gemessen, und während der beiden japanischen Grands Prix 1976 und 1977 probierte er jeweils nach Feierabend mit Vorliebe die 300 km/h-Züge im Land der aufgehenden Sonne aus. Als 1970 in Israel ein versehentlich auf einen Sabbat terminiertes Rennen verschoben worden war, zettelte Vittorio auf einem Eselsrücken ein Rennen gegen die Rennfahrerkollegen Derek Bell und Xavier Perrot auf Kamelen an und platzierte das Langohr zwischen den Höckertieren an zweiter Stelle. Oft hatte er sich selbst kaum zu bremsen vermocht und es im Rennwagen manchmal schlichtweg vergessen…

Ski-Abfahrtslauf war Vittorio Brambilla zu gefährlich

Geboren am 11. November 1937, muss Vittorio Brambilla die Rennmotoren eigentlich schon in der Wiege gehört haben. Denn das dreistöckige Elternhaus stand in unmittelbarer Nachbarschaft der traditionsreichen Monza-Rennstrecke. Dass der Vater eine Autowerkstatt betrieb, beeinflusste die Berufswahl der Söhne Ernesto, geboren 1934, und Vittorio zusätzlich, sie gingen bei ihm in die Lehre und wurden Mechaniker. Sehr bald befiel den älteren Ernesto der Rennbazillus, er schwang sich in den Motorradsattel. Nach etlichen Verfolgungsjagden mit der örtlichen „Policia“ kanalisierte der 19-jährige „Tino“ 1953 seinen ungestümen Vorwärtsdrang in den Motorsport. Stolze 80 Siege auf zwei Rädern errang er, ehe er 1962 in den Formel-Junior-Rennwagen um-stieg. Auf einem Wainer-Ford erzielte Erne-sto 1963 in Collemaggio ein erstes, auch international bedeutendes Resultat. Drei Jahre später wurde er mit einem Birel – einer italienischen Kopie des Brabham BT 21 – Landesmeister in der Formel 3. 1967 trat er als Tecno-Werksfahrer auch bei internati-onalen Formel-3-Rennen an, zur Saisonmit-te 1968 wurde er Ferrari-Werksfahrer in der Formel 2. Er griff spät, aber beherzt in die laufende Europameisterschaft ein. Mit zwei Siegen, in Hockenheim und Vallelunga, und einem dritten Platz im sizilianischen Enna katapultierte er sich noch auf einen dritten Schlussrang im Championat. Dreimal drehte er die schnellste Rennrunde.
Längst eiferte Vittorio ihm nach. Ski-Abfahrtslauf hatte er allerdings aufgegeben, weil er ihm zu gefährlich geworden war. Nach dem Gewinn der Go-Kart-Weltmeisterschaft 1959 versuchte er sich zunächst ab 1962 auch auf zwei Rädern, letztlich nicht minder erfolgreich als sein Bruder. Er brachte es selbst bis zum Aermacci-Werksfahrer und konnte sich 1967 für den Gewinn der italienischen Straßenmeisterschaft in der 250 ccm-Klasse feiern lassen. Anschließend markierte er einige neue Weltrekorde für Moto Guzzi, die über Jahre hinweg gültig blieben. Weil gegen seine Übernahme in das MV Agusta-Team der dortige Spitzenfahrer Giacomo Agostini intervenierte, dreht Vittorio der Zweiradzunft vorläufig den Rücken. In der ganzen Zeit hatte er zwischendurch immer wieder als Rennmechaniker seines Bruders ausgeholfen und avancierte zu einem ausgesprochenen Ex-perten, der von der Technik der vierrädrigen Boliden fasziniert blieb. In dem Jahr, in dem Ernesto in der Formel 2 für Furore sorgte, übernahm Vittorio dessen etwas betagten Formel-3-Birel und wurde auf Anhieb italienischer Vizemeister, was er 1969 noch ein-mal bestätigte.

Vittorio Brambilla – der Schrecken der Konkurrenz

Mitte 1969 zog sich Ferrari aus der Formel 2 zurück, was Ernesto vorübergehend ohne fahrbaren Untersatz ließ. Aber ein Konsortium italienischer Geschäftsleute stufte die Brüder als sehr förderungswürdig ein. Braito-Gartenmaschinen, Frigerio-Aluminiumteile und Gariboldi-Hausbau en gros schlossen sich zur Finanzierung des „Ala d’oro“-Formel-2-Teams („die goldenen Flügel“) zusammen. Teammanager wurde ein gewisser Signor Angeleri, Ernesto Brambilla konzentrierte in Personalunion die Funktionen Koordinator, Fahrer Nummer eins, Testpilot und Mechaniker auf sich. Vittorio Brambilla heuerte als Fahrer Nummer zwei an und brachte darüber hinaus ebenfalls Fertigkeiten als Schrauber ein. Das Team setzte auf die neueste Brabham-Formel-2-Kreation, den BT 30-Cosworth, eine reife, sehr konkurrenzfähige Konstruktion auf der Basis langjährigen Engagements des Herstellers auch in dieser Rennwagenklasse.
Das Formel-2-Team „Ala d’Oro“ formierte sich zum Schrecken der Konkurrenz, denn die Brüder Brambilla legten mitunter einen frechen, ruppigen Fahrstil an den Tag. Es gab sogar Kollisionen, nach denen sie die Schuldfrage am Streckenrand in Faust-kämpfen zu entscheiden suchten. Obwohl sie gelegentlich vorn mitfuhren, blieb aber die sportliche Ausbeute insgesamt dürftig. Fahrerisch schob sich nun stärker der jüngere Vittorio in den Vordergrund, wurde Zweiter auf dem Salzburgring und auf dem Flugplatz München-Neubiberg. In der Saison 1971 trennten sich die Geldgeber von den Brüdern, weil sie sich in Bezug auf die selbst getunten Motoren ausgenommen fühlten. Im Gegenzug behielt Ernesto einen F2-March 712 M, der die Brabham im Team ersetzt hatte, als Begleichung noch ausstehender Rechnungen und fuhr mit Unterstützung kleinerer Sponsoren aus der Zubehörindustrie weiter.
Vittorio akzeptierte für einmal noch ein lukratives Angebot aus der Zweiradszene als Moto Guzzi-Werksfahrer. Zum Saison-ende 1972 zog sich Bruder Ernesto auf die Position des Teammanagers zurück, einige Unfälle hatten ihm zu denken gegeben. Für 1973 konzentrierte er sämtliche Aktivitäten auf ein Ein-Wagen-Team in der Formel 2. Der Werkzeughersteller Beta finanzierte Vittorios Einsätze als Fahrer auf einem March 732-BMW in der Formel-2-Europameisterschaft. Das Brüder-Team lebte auf kleinem Fuße, ein einziger Mechaniker kümmerte sich um die Vorbereitung des Wagens. Schon den

Transporter mussten die Brüder selbst fahren.

Formel 2 1973: Vittorio zeigte sich ungewöhnlich diszipliniert
Das Unternehmen zeitigte überraschen-den Erfolg. Mit dem March-BMW, der von der Motorleistung her der mit Ford-Aggregaten bestückten Konkurrenz leicht überlegen war, hatten die Italiener auf das richtige Pferd gesetzt. Zudem zeigte sich Vittorio ungewöhnlich diszipliniert. Selbst auf der extrem schwierigen Nürburgring-Nordschleife, in strömendem Regen beim Eifelrennen, unterlief ihm kein Fehler. Über die Saison hinweg steigerte er sich sukzessive. Kurz vor Toresschluss hatte er dann bei den EM-Meisterschaftsläufen Salzburgring und Albi zweimal hintereinander die Nase ganz vorn und wurde noch Gesamtdritter der Schlusswertung.
Bei Beta brach helle Freude aus über den unvermuteten Werbeträger – nun wollte der Werkzeugfabrikant mit Vittorio in die Formel 1. Eine günstige Gelegenheit hier bot sich zu Saisonbeginn 1974 bei March, wo nach vier Jahren Sponsoring und immer schlechterer Erfolgsausbeute der amerikanische Mineralölkonzern STP abgesprungen war. Für den Augenblick zählte dort die Mitgift eines Fahrers mehr als sein Renommée. Und Vittorio konnte gerade sogar von jedem etwas bieten. So konnten ihn die Geldgeber für umgerechnet rund 450.000 DM in ein Team einkaufen, das sportlich und wirtschaftlich um den Anschluss rang. Mit seinem Einstiegsalter von 36 Jahren war er in der Formel-1-Szene der frühen 70er Jahre ein ausgesprochener Spätzünder. Und March war nicht gerade das Team der unbegrenzten Möglichkeiten.
Diese Ausgangslage baute einigen Druck in ihm auf und schlug sich nieder in einem zunehmend aggressiver werdenden Fahrstil an der Grenze zum „Abflug“ und darüber hinaus. Er war derjenige, der vor den Kurven seine Reifen „zehneckig“ bremste, um mit aller Gewalt in der Spitzengruppe zu bleiben, der wieder und wieder ohne Wagenschnauze daherkam. „Ein durchaus biederer Mann, solange er nicht im Cockpit sitzt,“ charakterisierte ihn der österreichische Motorsport-Journalist und mehr-fache Buchautor seinerzeit einmal, „erst dann brennen ihm alle Sicherungen durch, und der Wahnwitz greift ihm ins Lenkrad.“ Vittorio selbst aber bekundete Mitte der 70er Jahre: „Ich habe keine Probleme, und ich mache mir keine Probleme. Meine Frau, meine beiden Söhne und meine Tochter sind stolz auf mich – was will ich mehr?“

Vittorio Brambilla erreichte einen Grand Prix-Sieg mit schräg stehender Wagenschnauze!

Wohl hatte er einen größeren Anteil daran, die Autos von der Technik her weiter nach vorn zu bringen, bis auf die Pole-Position beim schwedischen Grand Prix 1975 in Anderstorp. Und zweifellos fuhr er auch gute Rennen. Aber unter dem Strich blieben wenige zählbare Resultate. Es war symptomatisch für den Verlauf seiner Formel-1-Karriere, dass er seinen einzigen Sieg – beim österreichischen Grand Prix 1975 mit dem March 751-Ford Cosworth V8 – in einem Rennen herausfuhr, das wegen etlicher Unfälle bei starkem Regen vorzeitig abgebrochen und nur mit halber Punktzahl gewertet wurde. Und auch für ihn selbst kam die Schachbrettflagge keinen Augenblick zu spät: Er überquerte die Ziellinie mit schräg stehender Wagenschnauze…
Sein Wechsel zu Surtees 1977 verbesse-te weder seine Lage, noch viel weniger die des Surtees-Teams. Der Schrotthaufen hät-te einen neuen Lagerplatz gefunden, läster-ten böse Zungen bald. Im belgischen Grand Prix in Zolder fuhr er mit dem Surtees TS 19-Ford Cosworth V8 allerdings eines der besten Rennen seiner Laufbahn, lag bei wechselhafter Witterung sogar vier Runden lang in Führung und kam schließlich als Vierter ins Ziel – ein sogar recht schmeichelhaftes Resultat für den Surtees-Ford. Über seine scheinbar unendliche Unfallserie hingegen wurde sein in Ehren ergrauter Teamchef John Surtees weißhaarig. Als seine „wüste Seele“ in der berüchtigten Startkarambo-lage beim italienischen Grand Prix in Monza 1978 dann massiv gestoppt wurde, traf Vittorio für einmal keine Schuld. Getroffen von einem umherfliegenden Rad wurde er mit Schädelbruch und Gehirnquetschung geborgen und schwebte noch einige Zeit in Lebensgefahr. Der Unfall markierte zwar nicht das unmittelbare Ende seiner Rennfahrerlaufbahn. Aber seiner Rückkehr 1979 im Cockpit des zweiten Formel-1-Alfa Ro-meo fehlte dann doch eindeutig der Glanz. 1980 zog er sich nach dem Grand Prix Italien in Imola als Fahrer vom Rennsport zurück. Nach seinem Rücktritt führte er seine Autowerkstätte in Monza weiter und fun-gierte jahrelang als Motorradbegleitfahrer beim Giro d’Italia.

Seine Jugendliebe Daria hatte Vittorio 1962 geheiratet. Sie wurde Mutter seiner Tochter Dormatella und der beiden Söhne Carlo und Roberto. 1983 gründete er für den 21-jährigen Carlo ein Formel-3-Team, um an der italienischen Meisterschaft und einigen Europameisterschaftsläufen teilzu-nehmen. Sohn Carlo trat in der Folge im Motorsport allerdings kaum nennenswert in Erscheinung. Am 26. Mai 2001 verstarb Vittorio Brambilla beim Rasenmähen im Garten seines Hauses in Monza nach einem Herzinfarkt im Alter von 63 Jahren.

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