Vergessene Rennstrecken: Reims

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Als Anfang der 70er Jahre der schrille Motorenlärm in der Champagne endgültig verstummte, war da schon der Circuit de Reims ein Relikt aus einer Zeit, als Autos vielfach auch noch als Ungetüme angesehen wurden, Rennwagen noch mehr als andere. Auch Kaiser Wilhelm II., der selbst schon gelegentlich Auto fuhr, hatte zu Beginn der 20. Jahrhunderts diese Erfindung noch so kommentiert, er setze langfristig auf das Pferd. Andererseits grassierte aber bereits ein hoch anstecken-des Rekord-Fieber sondergleichen, für die Befallenen war wiederum Maximal-Tempo das Höchste der Gefühle… Zu Beginn der 1920er Jahre gab es noch nicht den Be-ruf des Rennstrecken-Architekten in dem Sinne, und die drei in Europa berühmten, konstruierten „Test-Strecken“, wie das damals auch schon einmal hieß, Brooklands, die Avus und Monza, waren aus dem Zeitgeist heraus geboren – als geradezu irrwitzige Vollgas-Pisten. „Wir fuhren ja in den 30er Jahren auf der Avus schon weit mehr als 300 km/h auf den Geraden,“ beschrieb Manfred von Brauchitsch noch Mitte der 90er Jahre das Empfinden hinter dem Lenkrad eines Vorkriegs-Grand Prix-Wagens, „und hatten eine sch…. Angst, auch nur eine Hand vom Lenkrad zu nehmen, um zu schalten.“
Am 25. Juli 1926 eröffnete dann der Automobile Club Ardenne Champagne Argonne in den Getreidefeldern der Champagne, im Flachland am Fuße der französischen Ardennen, eine rund 7,8 Kilometer lange Rennstrecke einfach durch Absperren eines „Dreiecks“ aus öffentlichen Landstraßen mit ebenso relativ stupidem Strecken-Verlauf – bis auf drei Haarnadel-Kurven ging es wesentlich geradeaus. Aus heutiger Sicht höchst bedenklich, enthielt die erste, bis 1951 gefahrene Strecken-Variante sogar noch die Ortsdurchfahrt Gueux, hier lag das enge Eck zwischen einer Metzgerei und einem Lebensmittelladen… Das Eröffnungsrennen, den „Grand Prix de la Marne“, der bis 1937 dort jährlich in verschiedenen Rennwagen-Kategorien ausgetragen wurde, gewann als Tagessieger Francois Lescot auf einem Bugatti Typ 35. Er absolvierte 40 Runden Renndistanz mit einem Schnitt von 112,768 km/h und drehte die schnellste Rennrunde in 4.03 Minuten (118,518 km/h). Das liest sich heute harmlos, war aber für die unbefestigten Landstraßen seinerzeit und eine praktisch kaum vorhandene Haftung der schmalen Reifen im Grenzbereich schon ein enormes Tempo.

1932: 156,52 km/h auf der Renennstrecke Reims

Bereits zwischen den Weltkriegen war Frankreich, wo der Motorsport einmal 1894 mit der Fernfahrt Paris-Rouen geboren wurde, ein gelobtes Land für die Rennerei mit mehr Rennstrecken als irgendwo sonst in Europa. Daher konnte auch der Grand Prix Frankreich, der offiziell „Grand Prix de l’Automobile Club de France“ hieß, immer wieder andernorts zur Austragung kommen. 1932 fand der erste in Reims statt, und er wurde zum Triumphzug für das Werks-Team von Alfa Romeo. Tazio Nuvolari siegte vor sei-nem Landsmann Baconin Borzacchini und Rudolf Caracciola. Alle drei schafften mit dem Alfa Romeo Tipo B die volle Renndistanz von 92 Runden, über 700 Renn-Kilometer! Auf den nächsten drei Plätzen liefen überrundet die Bugatti T 51-Piloten Louis Chiron, René Dreyfus und William Grover-Williams ein. In seiner schnellsten Rennrunde schaffte Nuvolari das Landstrßen-„Dreieck“ in glatt drei Minuten mit einem Schnitt von 156,52 km/h. Nur sechs Jahre nach der Eröffnung des Kurses war das Tempo im Mittel also um nahezu 40 km/h gestiegen!

1939: 190,75 km/h auf der Renennstrecke Reims

Bei den beiden letzten Grand Prix in Reims vor dem Krieg schraubte dann Mercedes-Werksfahrer Hermann Lang die Re-korde weiter nach oben gegen die 200 km/h-Marke, er fuhr sowohl 1938 beim dreifachen Mercedes-Sieg in der Reihen-folge Manfred von Brauchitsch, Rudolf Caracciola, Hermann Lang als auch 1939 beim Auto Union-Doppelsieg in der Reihenfolge H.P. Müller vor „Schorsch“ Meier Trainingsbestzeit und schnellste Rennrun-de. Dabei brachte er für die Pole Position 1939 die 7,826 Kilometer in 2.27,7 Minuten mit einem Schnitt von mehr als 190 km/h hinter sich!

1966: 233,803 km/hauf der Renennstrecke Reims

Nach 1951, nachdem der Streckenverlauf so abgeändert worden war, dass niemand mehr durch den Ort Gueux fahren und aus vollem Tempo heraus „Metzge-rei und Lebensmittel-Laden“ anbremsen musste, stieg die Rundenlänge auf 8,3 Kilometer, aber der gefährliche Strecken-Charakter blieb. Nun waren sogar nur noch zwei Spitzkehren, „Virage de Muizon“ und „Virage de Thillois“, platziert, der Rest bestand aus sauschnellen Bögen und Geraden. Über die Jahre hinweg trat Reims in einen imaginären Wettstreit mit Spa-Francorchamps und Monza um das zweifelhafte Prädikat der schnellsten, noch in Betrieb befindlichen Grand Prix-Strecke; auf der Avus trat die Formel 1 nach 1959 ja nicht mehr an. Als der italie-nische Ferrari-Werksfahrer Lorenzo Ban-dini im ersten Jahr der Dreiliter-Formel-1, am 2. Juli 1966 im Abschluss-Training zum Grand Prix von Frankreich, eine Runde in 2.07,8 Minuten drehte und den Schnitt auf sagenhafte 233,803 km/h trieb, war es für ein paar Monate – wieder Reims. Bei allem war aber weniger das Tempo an sich das Problem, als vielmehr die Wind-schattenschlachten der Wagen-Pulks. Je homogener und chancengleicher das Ma-terial – das galt vor allem auch für Formel 2- und Formel 3-Rennen in Reims – desto größer das Risiko. Beim letzten Formel-2-Rennen in Reims 1969, das Francois Cevert im Tecno gewann, passierten die ersten Sieben im Pulk die Zielflagge innerhalb nur einer Sekunde…! Nachdem 1972 in Monza Schikanen eingeführt waren, charakterisierte Jackie Stewart die damalige, auch in der Formel 1 grundsätzliche Windschatten-Problematik so: „Wenn es im letzten Jahr hier eine Kollision bei 300 km/h gegeben hätte, wären die Autos wahrscheinlich erst am Ufer des Comer Sees zum Stehen gekommen.“ Es war letztlich auch das Ende der 60er Jahre stark aufkommende Sicherheits-Bewusstsein prominenter Grand Prix-Fahrer wie Graham Hill, Jochen Rindt oder Jackie Stewart, das Reims als Rennstrecke nach 1972 das Genick brach.

Tribute

Und das kam nicht von ungefähr, auch Reims hatte Todesopfer gefordert. Annie Bousquet, damals bekannteste Rennfahre-rin Frankreichs, wurde 1956 beim traditio-nell nachts gestarteten 12-Stunden-Rennen von Reims aus dem Cockpit ihres Porsche 550 Spyder geschleudert. Der Brite Wil-liam „Bill“ Whitehouse im Cooper und der Amerikaner Herbert MacKay-Fraser im Lo-tus starben beim Formel 2-Rennen 1957. „Reims war ein sehr gefährlicher Kurs,“ notierte Roy Salvadori, in diesem Rennen Vierter im Cooper, in seiner Autobiografie „Roy Salvadori – Racing Driver“, „weil die Kurven so schnell waren, dass wenn du von der Straße abkommen würdest, würdest du im Feld landen, wobei sich der Wagen viel öfter als nicht überschlagen würde.“ Auch Luigi Musso, Italiens große Hoffnung der 50er Jahre, duellierte sich 1958 bei einem Hochgeschwindigkeits-Zweikampf im Grand Prix von Frankreich in Reims mit dem Ferrari-Teamgefährten und Renn-Sie-ger Mike Hawthorn zu Tode. Der bekannte französische Formel 2-Meister und Rallye-Fahrer Claude Storez verstarb 1959 bei einer Sonderprüfung der Rallye des Routes du Nord in den Getreidefeldern. Und 1962 erwischte es den amerikanisch-kanadischen Rennfahrer Peter Ryan beim „Coupé de Vi-tesse Junior“ in Führung liegend nach einer Kollision.

Sternstunden

Reims mag dennoch aber auch für große Momente in Erinnerung bleiben, auch aus deutscher Sicht. Der gerade einmal 30-jäh-rige Bielefelder Nachwuchsfahrer Hermann Paul Müller (H.P.) gewann hier 1939 im Auto Union Typ D seinen ersten und einzigen Grand Prix. Der denkwürdige Doppelsieg von Juan Manuel Fangio und Karl Kling in ihren Mercedes W 196 gleich beim Debüt des Autos markierte 1954 den Start eines glanzvollen Mercedes-Comebacks in den Grand Prix-Sport. 1958 triumphierte hier der Franzose Jean Behra im „Coupé de Vitesse“ mit der ersten Formel-2-Kons-truktion des Hauses Porsche, noch auf Basis des RSK Spyders. 1961 landete der Italiener Giancarlo Baghetti in einem privaten Ferrari Tipo 156 nach dem Ausfall des kompletten Ferrari-Werksteams und einer Windschat-tenschlacht bis zum Flaggenfall einen Über-raschungs-Sieg gleich bei seinem Formel-1-Debüt. Heute mag Reims eine vielleicht in Vergessenheit geratene Rennstrecke sein. Aber sie bleibt ein Symbol für einen kühnen, halsbrecherischen, vielleicht irren Motorsport, in dem Rennfahrer mindestens Helden waren. Und im Gegensatz zu einigen anderen „ver-gessenen Rennstrecken“ stehen hier noch Relikte – wenn man so will, „mahnend“.

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