Es gibt inzwischen sicher viele in Vergessenheit geratene Rennstrecken, viele Stadtkurse beispielsweise, auf denen noch in der ersten Nachkriegszeit gefahren wurde und die da nichts anderes als zum Rennen abgesperrte Straßen waren – undenkbar nach heutigen Sicherheits-Standards. Dass aber in einem gelobten Rennstrecken-Land wie Frankreich ein einmal so berühmter Schauplatz wie der Circuit Rouen mit bedeutender Motorsport-Historie nahezu spurlos in Versenkung verschwinden konnte, so etwas kann sicher als bemerkenswert selten gelten. Noch im letzten Kreisverkehr nördlich der Gemeinde Orival an der Seine gibt es nicht mehr den geringsten Hinweis auf den „Circuit Rouen“, und sie liegt gerade einmal rund einen Kilometer entfernt von der berühmten Spitzkehre des Kurses, „Virage du Nouveau Monde“. Wer dort – quasi auf Verdacht – Richtung Rouen abbiegt, erreicht dann plötzlich jene Spitzkehre, die er eigentlich aber auch erst dann wiedererkennt, wenn er vorher Rennbilder aus Rouen gesehen hat. Immerhin ist in „Nouveau Monde“ noch ein Teil des Kopfsteinpflasters zu erkennen, das diese Kurve auch immer identifizierte. Wo dort früher auf dem Hügel neben der Bremszone oberhalb befestigter Werbe-Banderolen dicht gedrängt die Zuschauer standen, sind heute Bäume bis an den Fahrbahnrand gewachsen.
Vegetation bis an die Straße überall, der „Circuit Rouen“ ist heute regelrecht zugewachsen. Dieser Gesamteindruck setzt sich fort, wenn du in „Noveau Monde“ in Richtung der Kurven „Virage Samson“, „Virage de Beauval“ und „Courbe de l’Etoile“ deine Runde auf dem Weg nach Start-und-Ziel startest. Dabei zeigt sich bald, dass heute nur noch die allererste, 5,1 Kilometer lange Streckenführung aus der Zeit 1950 bis 1954 zu befahren ist, wobei die Gerade hinter der „Courbe de l’Etoile“ quer durch den Wald in Richtung Start-und-Ziel inzwischen offenbar dem ältesten Gewerbe der Welt dient. Nach einer engen Rechts kommst du dann auf die damalige Zielgerade, hier lässt sich kaum noch erahnen, was einmal Start-und-Ziel war. Die Boxen-Anlagen wurden abgerissen, von der Einfahrt ist nur noch eine asphaltierte Einbuchtung übrig geblieben. Auf dem ehemaligen Fahrerlager-Platz werden heute Baumstämme gelagert. Auf der zu gewucherten Böschung am Straßenrand gegenüber sind hinter ei-nem Maschendrahtzaun noch die Beton-Gatter zu erkennen, hinter denen einmal die Zuschauer standen. Von Start-und-Ziel aus zurück Richtung „Noveau Monde“, bergab durch die ehemals schnellen Mut-Kurven wie „Virage des Six Fréres/Virage des Roches“, ist die Fahrbahn heute für Verkehr und Gegenverkehr durch Pylonen geteilt, es gilt ein Tempo-Limit von 70 km/h.
Auf Spurensuche in Rouen
Du hast die Spurensuche beinahe schon aufgegeben, da fällt im Dörfchen Les Essarts neben der ehemaligen Rennstrecke der Blick auf die Bar Brasserie „Le Nouveau Monde“. Und hier sind dann allerdings die Wände bis unter die Decke mit alten Fotos von Rouen-Rennen, früheren Renn-Plakaten und Renn-Programmen tapeziert. In Regalen stehen alte Rennfahrer-Helme, in einer Vitrine in der Ecke gibt eine umfangreichere Sammlung von Modellautos und alten Spielzeugautos einen Überblick, welche Rennwagen in Rouen fuhren und siegten. Die Bar ist wohl der letzte Platz, der noch die Fahne hochhält, was einmal Circuit Rouen war. So wenig ist heute übrig von einem Schauplatz, der noch in den 50er/60er Jahren im Wechsel mit Reims sogar Austragungsort des For-mel-1-Grand Prix von Frankreich war.
Rennen gab es in Rouen von 1950 bis 1993
Dabei hatte einmal der weltweit erste sportliche Wettbewerb mit Automobilen am 22. Juli 1894, die Fernfahrt Paris-Rouen, nicht nur die Motorsport-Tradition in dieser Region, sondern in Frankreich überhaupt begründet. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bauten dann einige passionierte Rennfahrer im Wald bei Les Essarts eine kleine Rennstrecke, über die kaum etwas bekannt ist und deren Spuren offenbar durch den Zweiten Weltkrieg getilgt wurden. 1949 wurde der Bau einer geraden Verbindungsstraße zwischen Les Essarts und Orival durch den Wald geplant. Der Automobilclub der Normandie in Rouen beantragte bei der Département-Verwaltung erfolgreich die zeitweise Nutzung der Straße für Motorsportzwecke und stellte 1950 einen 5,1 Kilometer lan-gen Kurs aus dieser inzwischen fertigen Straße, weiteren Département-Straßen und der Route Nationale 840 zusammen. Am 30. Juli 1950 eröffnete Jean Savale, Präsident des Automobilclubs der Normandie, die Strecke. Das Hauptrennen an diesem Tag war der erste Grand Prix de Rouen, den der Franzose Louis Rosier mit einem Formel 1-Talbot-Lago gewann. Am selben Tag siegte der Brite Bill Whitehouse (Cooper) im Formel-3-Rennen. Am 8. Juli 1951 gab es einen Grand Prix de Rouen-les-Essarts der Formel 2 (Sieger wurde der italienische Graf Giannino Marzotto im Ferrari 166 F2/50) und der Formel 3 (Gewinner war der Brite John Cooper im Cooper T16 mit Norton-Motorradmotor). In den folgenden Monaten wurden die Strecke teils verbreitert und die Infrastruktur verbessert. Boxenanlagen, Fahrerlager, Parkplätze und Tribünen wurden erweitert oder vergrößert, da man 1952 erstmals den Grand Prix von Frankreich in Rouen-les-Essarts erwartete. Dieser Lauf zur Fahrerweltmeisterschaft am 6. Juli 1952 führte über 77 Run-den und brachte nach drei Stunden einen dreifachen Ferrari-Triumph: Start-Ziel-Sieger wurde der Italiener Alberto Ascari im Ferrari Tipo 500 vor seinen Teamkollegen und Landsleuten „Nino“ Farina und Piero Taruffi mit einem Schnitt von 129,2 km/h. Die Fahrer und Experten sprachen damals vom herausforderndsten und schönsten Kurs Frankreichs und fühlten sich durch die Strecken-Charakteristik mit schmalen Fahrbahnen, starken Gefällen und Anstie-gen sowie dem umgebenden Wald an die Nürburgring-Nordschleife erinnert. Am 2. August 1953 feierte Rouen-Les-Essarts auch die Motorrad-WM-Premiere. Fergus Anderson siegte auf Moto Guzzi in der Klasse bis 350 ccm, Goff Duke auf Gile-ra in der Halbliter-Klasse, und Eric Oliver/Stanley Dibben gewannen auf Norton die Gespann-Klasse. Weitere Motorrad-WM-Läufe in Rouren kamen noch 1954 und 1965 zur Austragung. Der letzte Gewinner eines Motorrad-WM-Laufs auf dieser Strecke war der 250-cm³-Weltmeister 1965, Phil Read auf Yamaha.
Schlesser war nicht der erste tödlich verunglückte Pilot in Rouen und blieb nicht der letzte. Zwischen 1967 und 1977 starben fünf Rennfahrer auf der gefährlichen Strecke, darunter 1973 auch der bekannte schottische Formel-2-Pilot Gerry Birrell. Wiederholt waren auch schlecht montierte Leitplanken die Ursache für besonders schwere Verletzungen. In einer Zeit eines stark wachsenden Sicherheits-Bewusstseins unter den Lenkrad-Artisten – auch in Formel-2-Rennen waren damals relativ häufig Grand Prix-Fahrer am Start – lösten die Todesstürze einen Niedergang von Rouen-Les-Essarts in Raten aus. Inzwischen gab es in Frankreich auch zunehmend sicherere Strecken wie den Circuit Paul Ricard oder den Circuit de Dijon-Prenois, die als permanente Kurse ausschließlich auf den Motorsport aus-gerichtet waren. Hier musste keine Rück-sicht auf die Bedürfnisse des öffentlichen Straßenverkehrs genommen und nur we-nig auf die Belange des Natur- und Land-schaftsschutzes geachtet werden.
Das letzte Rennen war 1993
1978 war die Formel 2 letztmals in Rouen; damit endete auch die internationale Bedeutung der Strecke. Ab 1980 gastierte hier noch die französische Formel-3-Meisterschaft, zusammen mit weiteren nationalen Rennserien. Aber auch diese kleineren und schwächeren Rennsport-Klassen erwiesen sich auf Dauer als zu schnell für die Strecke. Der Automobilclub der Normandie (ACN) geriet in finanzielle Nöte und konnte weitere Instandhaltungsarbeiten oder gar Ausbauten nicht mehr bezahlen. 1993 fanden die letzten Rennen statt, danach verfielen die Anlagen nach und nach, bis sie im Herbst 1999 fast restlos beseitigt wurden. 1996 hatte der ACN ein Angebot der öffentlichen Hand ausgeschlagen, wenigstens den Zeitnehmerturm als historisches Denkmal zu erhalten; dem Club fehlten aber auch dafür die Mittel.
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