Der letzte David

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Der letzte David

Im Juli 2020 sprach Gerhard Berger zum ersten Mal über eine mögliche Abwicklung der DTM, also das tatsächliche Ende dieser traditionsreichen Rennserie. Auch wenn die Anzeichen sicher kaum zu ignorieren waren, ist eine neue Motorsportsaison 2021 ohne das Kürzel „DTM“ nur schwer vorstellbar. Zweifelsfrei hat sich die DTM einen unverrückbaren Stellenwert in der Geschichte des deutschen und europäischen Motorsports erarbeitet. Legendäre Rennen bis zur Mitte der 1990er Jahre werden immer in Erinnerung bleiben – eindeutige Zeichen für eine Erfolgsgeschichte, die mit vielen Höhen, aber auch mit Tiefen verbunden bleiben wird. Gerade der Blick auf die von vielen Fans geliebte Vielfalt der früheren DTM offenbart daher auch Kardinalsfehler, von denen hier drei genannt werden sollen:

  1. Die Wandlung zur reinen Herstellerserie und der damit verbundene schleichende Ausschluss von eigenständigen Teams und Privatiers.
  2. Die technische Eskalation Mitte der 1990er Jahre in der DTM und im Deutschen Tourenwagen Masters.
  3. Das Selbstverständnis als Serie für Premiumhersteller.

Alle drei sind eng miteinander verwoben. Wo die DTM stehen würde, wenn man diese Entscheidungen nicht oder anders gefällt hätte, wird immer Gegenstand heftiger Diskussionen bleiben. Immerhin einige Teams und Fahrer hatten sich bis zum Ende der Saison 1994 von den großen Herausforderungen dieser Zeit nicht abschrecken lassen: Armin Bernhard im Mercedes-Benz 190 Evo II, Karsten Molitor im BMW M3 E30, die Mustang Fahrer Gerd und Jürgen Ruch sowie Jürgen Feucht, Luggi Linder mit seinem BMW E36 aus dem Jahr 1993 und zu guter Letzt Udo Wagenhäuser. Sein weißer WS-DHL BMW E36, den er 1994 am Hockenheimring der Öffentlichkeit präsentierte, ist das letzte in Eigenregie entwickelte Fahrzeug der klassischen DTM.

Udo Wagenhäuser – kein Unbekannter

Initiator des Projekts um den BMW E36 war Udo Wagenhäuser. Hinter mehr eingesetzten Fahrzeugen als man vermuten mag, steckte dessen technische Betreuung, vor allem in Formelrennserien von Mitte der 70er Jahre bis in die 80er hinein. Dementsprechend reich waren auch sein Erfahrungsschatz und Netzwerk im Motorsport, als ihn BMW-Sportchef Wolfgang Peter Flohr schließlich animierte, in den Tourenwagensport zu wechseln. Mit BMW-Motorsport bestand seit Anfang der 1980er Jahre eine enge Verbindung, als Udo Wagenhäuser dort ein Formel 2-Projekt betreut hatte. Thomas von Löwis, Rüdiger Schmitt und Prinz Leopold von Bayern pilotierten die ersten von Wagenhäuser eingesetzten und technisch betreuten M3´s. Als Günther Murmann mit Diebels ab 1990 in der DTM als Privatteam groß auftrat, war es effektiv wieder Udo Wagenhäuser, der die Fahrzeuge aufbaute und betreute. Nach dem Wechsel des Hauptsponsors Diebels zu Zakspeed betreute Wagenhäuser dann dort die M3 von Kurt König in der DTM, parallel dazu außerdem Einsätze in der Formel Opel und Formel 3 mit dem Sponsor DHL, der sich in diesen Jahren zum ersten Mal im Motorsport platzierte. Auf die Frage von DHL, wo man noch präsenter im Motorsport werden könne, kannte Udo Wagenhäuser nur eine Antwort: In der DTM.

Dann eben selbst

Im Laufe der Saison 1992 wurde bei BMW ein Klasse 1-Fahrzeug entwickelt und Udo Wagenhäuser bekam ursprünglich die Zusage, in der Saison 1993 einen neuen Klasse 1 M3 E36 einsetzen zu können. In diesem neuen Klasse 1 BMW sollte ein Reihensechszylinder auf Basis des M50B25 verbaut werden. Da dieser jedoch nicht so kompakt war wie die Triebwerke der anderen Hersteller, befürchtete man, dass dies durch eine ungünstige Gewichtsverteilung zum Nachteil gereichen könnte. Der Antrag, den Motor weiter nach hinten versetzen zu können, wurde prompt abgelehnt, weil man nicht schon vor der Einführung des neuen Klasse 1-Reglements mit Ausnahmeregelungen anfangen wollte. BMW zog sich daraufhin beleidigt aus der DTM zurück. Udo Wagenhäuser stand so 1993 mit einem willigen Sponsor, aber ohne Auto da. Die Konsequenz daraus ist bekannt: „Dann eben selbst.“

Geduldete Spionage 

Die beiden weißen WS-DHL BMW E36 aus der Saison 1994 wiesen in ihrer Konstruktion des Rahmens große Ähnlichkeit mit dem streng geheimen BMW Motorsport Klasse 1 Prototyp auf. Geschuldet ist dieser Aspekt den guten Beziehungen Wagenhäusers zu BMW: „Anfangs habe ich lange mit BMW verhandelt. Was kann ich euch abkaufen? Was kriegen wir? Dann hieß es einmal: Ihr kriegt eine Rohkarosse, dann wieder: Nein, ihr bekommt die nicht. Wenigstens durfte ich mir sie dann abzeichnen. Ein paar Freunde bei BMW haben sämtliche Augen zugedrückt und gesagt: Wir wissen nicht, dass du da bist, fall‘ halt nicht auf. Da war ich dann zwei Tage in der Halle und habe ihn mir heimlich abgezeichnet.“ Zusammen mit Friedhelm Bergmann, der 1993 eigentlich schon bei Opel am Calibra arbeitete, startete Udo Wagenhäuser sein Projekt und entwickelte den WS-DHL BMW E36.

Kleines Team – aufwändige Konstruktion

Die Karosserie und Käfige wurden bei der Firma HEIGO in Würzburg gebaut. Schon hier gab es die ersten aufwändigen Umbauten zu meistern, da zum Beispiel der Auspuff in den Innenraum verlegt werden sollte. Die ganze Hinterachskonstruktion war komplett neu und glich im Aufbau der eines Formel 1-Wagens. Im Serienfahrzeug und auch im Vorgänger M3 war die Stoßdämpfer senkrecht angeordnet gewesen. Jetzt lagen sie quer im Hinterraum, wozu die Karosserie aufwändig umgebaut werden musste. „Der Aufbau der drei Karossen hat sich leider sehr hingezogen. Wir waren ja auch nur ein kleines Team von 10 bis 12 Mann. Ich bin nachmittags immer ins Auto gesprungen, in zweieinhalb Stunden von München nach Würzburg gerast, hab‘ dann bis nachts um zwei gearbeitet“, erinnert sich Udo Wagenhäuser an diese verrückten Zeiten. 

Bei Randlinger Motorenbau in Freiburg wurde der S14 Vierzylinderreihenmotor auf die Spezifikationen der Klasse 1 hochgezüchtet. Die reguläre Elektronik des Motors musste einer TAG Elektronik von McLaren weichen. Das ermöglichte es zum Beispiel, jede Einspritzdüse einzeln anzusteuern. Die Option, mit einer Traktionskontrolle zu arbeiten, nutze man auch aus. Das zog allerdings immense Kosten nach sich, weil diese Programme nur auf UNIX Computern liefen, die erst noch angeschafft werden mussten. Das sequentielle Getriebe kam von Hewland und war baugleich mit dem vom Klasse 1-Prototyp. Die Kupplung und Stoßdämpfer kamen von Sachs. Die Tatsache, dass man immer mit 20 bis 25 kg Platzierungsgewicht hantieren konnte, belegt, wie sehr man auf das Gewicht bei der Konstruktion geachtet hat.

Zu viele Steps – zu viele Probleme

Der Einsatz litt von Beginn an unter empfindlichen Zeitverzug. Der Aufbau der Karossen dauerte länger als erwartet, die Abstimmung mit den Ingenieuren von TAG lief zögerlich. Späte Lieferungen von Teilen oder Produktionsfehler summierten sich bis zum Beginn der Saison. Bei der Präsentation der DTM Fahrzeuge in Hockenheim konnte der neue WS-DHL BMW E36 nur ausgestellt werden. Auch die Testfahrten, die für Anfang März geplant gewesen waren, mussten gestrichen werden. Am Ende wurde das Ziel dahingehend reduziert, die Autos zum Saisonstart zumindest einsatzbereit zu haben und den Anschluss an die Konkurrenz nicht direkt zu verlieren. Das Training in Zolder war eher ein Roll Out. Rüdiger Schmitt war mit seiner schnellsten Runde 10 Prozent langsamer als die Bestzeit und hätte eigentlich nicht starten dürfen. Rennleiter Wolfgang Wilcke machte zum Saisonauftakt aber eine Ausnahme, da es vier Konkurrenten ähnlich erging. Erst anschließend konnte man im tschechischen Most ausgedehnte Testfahrten durchführen, bei denen man sich um 2,5 Sekunden steigern konnte. Trotzdem starten die WS-DHL BMW-Piloten oft aus der letzten Startreihe. 

Im Laufe der Saison reihte sich dann ein Ausfall an den anderen. Technische Probleme und Pech zogen sich wie ein roter Faden durch das ambitionierte Projekt. Motorschäden, Elektronikprobleme, Getriebe, fehlender Öldruck gaben sich die Klinke in die Hand. Am Nürburgring durchschlug im freien Training eine abgerissene Kardanwelle den Unterboden und schlug so fest gegen das Bein von Georg Severich, dass der Aachener im Reflex daraufhin den Motor überdrehte. In Hockenheim löste sich bei Rüdiger Schmitt das Schild mit dem Seriensponsor „Bäumler“ und blieb vor dem Lufteinlass des Kühlers hängen. Die Öltemperatur schoss infolgedessen auf 160° C hoch – Motorschaden. In Diepholz drangen Benzindämpfe in das Cockpit, weshalb Georg Severich wegen einer Vergiftung ins Krankenhaus musste. Mitten in der Saison wurde schließlich auch noch der Motorhersteller gewechselt: Seit dem „DTM on Tour“ – Rennen im britischen Donington starteten die WS-DHL BMW mit Motoren des Tuners Schill, da der Randlinger-Motor mit TAG Elektronik nie wirklich ans Laufen gekommen war. Die Bilanz der Saison 1994 war dementsprechend eher ernüchternd: Insgesamt nur sechs Mal sah ein WS-DHL BMW überhaupt die Zielflagge.

Udo Wagenhäuser sieht es heute realistisch. „Wir haben damals zu viele Steps auf einmal gemacht. Wenn man als Privatteam in die Klasse 1 einsteigt, musste man was riskieren. Mit einem Jahr Test- und Entwicklungszeit wäre vieles nicht passiert. Da gibt es so viele kleine Geschichten. Bei einem Test wollte unser Fahrer zum Beispiel losfahren, aber das Auto ging nicht vorwärts. Was war? Da hatten sich die Verklebungen von der Kohlefaserkardanwelle zu den Flanschen, die aus Titan gedreht waren, durch die Standhitze am Auspuff gelöst. Zum Glück hatten wir noch Musterkardanwellen aus Metall dabei und konnten die Tests fortsetzen. In einer Nacht- und Nebelaktion haben wir dann die Kardanwellen wieder repariert, indem wir in die Flansche 5mm Löcher schräg reingebohrt haben. Mit Kohlefaserschnüren haben wir die Kardanwelle und Flansch vernäht und verklebt. Danach ist die Kardanwelle uns bis zum Ende der Saison nie mehr kaputt gegangen. Das waren so Lernprozesse, die uns immer wieder zurückgeworfen haben und eigentlich vor einer Saison passieren müssen.“

Fahrerkarussell

Durch die vielen technischen Probleme kam schon sehr früh das Fahrerkarussell in Gang. Verkraftbar war noch die Tatsache, dass der Privatier Günther Höge bei der Teampräsentation in Hockenheim als neuer Fahrer neben Rüdiger Schmitt präsentiert worden war, aber noch vor dem Saisonauftakt absprang, weil wiederum sein Sponsor Medico 2000 sich zurückzogen hatte. Mit Harald Becker füllte ein routinierter Privatier die Lücke gut aus. 

Die anhaltenden Probleme nahm Rüdiger Schmitt anfangs gegenüber der Presse noch mit Humor: „Sowas Blödes. Im ersten Lauf ist mir in der Einführungsrunde der Gaszug gerissen. Im zweiten lief´s ganz ordentlich, nur musste ich zwischendrin mal an die Box, weil sich der Schalthebel gelöst hatte. Ich bin aber recht zufrieden. Wir kommen langsam in Reichweite der Klasse 1 190E aus dem Vorjahr. Und ich bin wenigstens mal ins Ziel gekommen. Außerdem hat mir mein Coca-Cola Mädchen seine Telefonnummer gegeben, also hat sich das Wochenende auf jeden Fall für mich gelohnt…“. Nach dem Eifelrennen am 8. Mai warf er aber wegen anhaltender Probleme das Handtuch. 

Georg Severich konnte seine Sponsoren Divinol und Omnia überzeugen und ersetzte Rüdiger Schmitt. Severich konnte als erster Fahrer dem WS-DHL BMW etwas mehr Potential entlocken und landete im Top-Qualifying B am Norisring sogar auf Platz 12. Damit war das kurzzeitige Hoch allerdings auch schon wieder vorbei, denn anschließend warf auch der eingesprungene Harald Becker das Handtuch. Bis zum Ende der Saison kam und ging ein Amateur nach dem anderen. Am Norisring, in Diepholz und beim Großen Preis der Tourenwagen Nürburgring griff Fritz Huber ins Lenkrad, auf der Avus fuhr Steffen Göpel, in Singen Rüdiger Seyffarth, beim Finale wieder Fritz Huber.

Durch die vielen Fahrer sind die Aussagen über das Fahrverhalten der BMW noch heute sehr unterschiedlich. Einige sagen, das Auto sei sehr gutmütig zu fahren, andere behaupten, es sei nervös und im Grenzbereich kaum fahrbar gewesen. Der eine schildert, das Auto sei sehr steif gewesen, andere wiederum erinnern sich, es hätte sich zu stark in der Längsachse verbogen. Udo Wagenhäuser erklärt im Rückblick: „Durch den ständigen Fahrerwechsel hatten wir zu viele Aussagen über das Auto und sind auch kaum in die Detailarbeit reingekommen. Deshalb habe ich zwischendurch auch mal Christian Danner gebeten, das Auto zu fahren. Den kannte ich noch gut aus meiner Zeit bei Murmann und durch Reifentests für Michelin. Danach ging es auch mal etwas schneller vorwärts. Ich will da keinem Fahrer zu nahetreten, aber so ein Profi hat einfach einen viel größeren Erfahrungsschatz.“

David gegen Goliath

Obwohl ma5n schon im Laufe der Saison erkennen musste, dass man als kleines Team gegen die großen Werke keine Chance haben würde, sieht es Udo Wagenhäuser heute gelassen. Auf die Frage, welche Bilanz ziehen würde, meinte er spontan: „Ich würde es wieder tun. Wir haben dabei viel gelernt.“

1988 siegte mit Kurt Thiim beim Eifelrennen zum letzten Mal ein Fahrer auf einem privat eingesetzten BMW M3 E30. Der letzte Sieg von „David gegen Goliath“. Der WS-DHL BMW 325i E36 ist das letzte Fahrzeug, welches nicht von einem Hersteller entwickelt wurde und beendet in der DTM die Ära der Privatiers. Spätestens nach der Saison 1995 waren Privatiers nicht mehr erwünscht. Man sah sich als reine Herstellerserie. Rückblickend ist dies ein Wendepunkt in der DTM-Geschichte. Für die ungewisse Zukunft der DTM bleibt zu hoffen, dass irgendwann mal wieder die Davids siegen können.

Autor: Christian Reinsch

Fotos: dtm-history.de / Farid Wagner