Die unaufhaltsamen Fortschritte in der Rennwagen-Technologie erhöhten auch die Durchschnittsgeschwindigkeiten in Spa-Francorchamps in den 60er Jahren horrend weiter – auf einer Strecke aus abgesperrten Landstraßen, auf der sich im Grunde seit 1951 nichts mehr verändert hatte. Am Ende des Jahrzehnts lagen die Durchschnittsgeschwindigkeiten der schnellsten Rennwagen jener Ära pro Runde zwischen rund 230 und 240 km/h, und am Ende der „Masta-Geraden“ vor dem Ort Stavelot erreichten sie Höchstgeschwindigkeiten von 300 km/h und mehr, vorbei an einer dort unmittelbar am Straßenrand stehenden Zeile von Telegrafenmasten – ohne weitere Worte.
„ES ERFÜLLTE MIT HOHER BEFRIEDIGUNG, DORT EINE PERFEKTE RUNDE HINZUBEKOMMEN“
Nicht einmal die Begrenzung des Formel-1-Hubraum-Limits auf den geringsten Wert in der Geschichte von „kleinen“ 1.500 ccm (1961 bis 1965) und dadurch bedingt anfangs deutlich geringere Motorleistungen von 80 PS oder mehr konnten die Temposteigerungen in Spa längere Zeit bremsen. Schon der Rennschnitt des Siegers im Grand Prix Belgien 1961, des Kaliforniers Phil Hill im „Haifischmaul“-Ferrari Tipo 156 V6, lag mit 206,2 km/h keine zehn km/h unter dem des Siegers im Jahr zuvor, Jack Brabham im 2,5-Liter-Cooper T 53-Climax 4. Und schon ein Jahr später lag die Trainingsbestzeit des Engländers Graham Hill im 1,5-Liter-BRM Typ 57 V8 mit 214,2 km/h Schnitt schon ganz nahe an Brabhams Rennschnitt 1960 (215,4 km/h). Phil Hill wiederum, Sieger 1961, gehörte zu denjenigen, die sich offenbar auf der Tempostrecke noch besonders wohl fühlten. „Ich liebte diese Strecke sehr,“ erklärte er einmal, „weil sie sehr schnell war und hohe Präzision am Lenkrad erforderte. Es erfüllte mit hoher Befriedigung, dort eine perfekte Runde hinzubekommen. Ich war nur ein knappes halbes Dutzend Mal in Spa in den Ardennen-Wäldern, ähnlich den Wäldern am Nürburgring, aber es war dort ebenso schön wie herausfordernd.“ Ganz im Gegensatz dazu empfand der Schotte Jim Clark als fahrerischer Maßstab jener Formel-1-Zeit stets hohe Antipathien gegen Spa, musste er doch gleich in seinem ersten Formel-1-Grand Prix dort 1960 knapp an dem gerade tot auf der Straße liegenden Rennfahrer-Kollegen Chris Bristow vorbei rasen. In seinen acht Formel-1-Auftritten zwischen 1960 und 1967 in Spa startete er auch nur zweimal aus erster Reihe – und gewann dennoch den belgischen WM-Lauf in Lotus-Climax V8-Versionen auch von Mittelfeld-Startplätzen aus sogar viermal hintereinander, 1963 und 1965 im Regen und 1963 mit schier unglaublichen 4.54 Minuten Vorsprung vor dem Neuseeländer Bruce McLaren im Cooper T 66-Climax V8.
In den 60er Jahren gingen im Spitzen-Motorsport in Spa-Francorchamps auch die Sterne zweier belgischer Lokalmatadoren auf. Als Erster kam der 1928 in Momignies an der französischen Grenze geborene Willy Mairesse, der schon 1957 mit einem Mercedes 300 SL ein GT-Rennen in Spa gewonnen hatte, stärker ins Bild. Mit einem Werks-Ferrari 250 GT SWB triumphierte er noch einmal als GT-Sieger 1961 im „Grand Prix de Spa“ mit enormem Rennschnitt von 193,6 km/h. Im Jahr darauf ging er als Ferrari-Werksfahrer bereits mit einem „Haifischmaul“-Tipo 156 V6 im belgischen Formel-1-Grand Prix an den Start. In identischen Autos hatte er zu Saisonbeginn 1962 überraschend die Formel-1-Nicht-WM-Läufe in Brüssel und Neapel gewonnen und stand jetzt in Spa – vor heimischem Publikum voller Tatendrang – auf dem sechsten Startplatz, zwei Zehntelsekunden langsamer als der amtierende Weltmeister Phil Hill im Ferrari.
„DANN RETTETE DER FERRARI MEIN LEBEN“
Im Rennen hatte er dann eine verheerende Kollision mit dem Briten Trevor Taylor im Werks-Lotus 24-Climax V8, die Taylor Jahre später so schilderte: „Ich lag einige Runden in Führung, bis meine Hinterradbremsen blockierten und ich in ‚La Source‘ in den Notausgang musste. Clark im neuen Lotus 25 ging an mir vorbei, ich geriet in der Folge in eine heiße Schlacht um Platz zwei mit Willy Mairesse hinter mir. Er war ein bisschen schneller die Hügel hoch von ‚Stavelot‘ in Richtung ‚La Source‘, und in einer Runde kam er mir sehr nahe in der letzten Linkskurve vor ‚La Source‘. Seine Wagennase tippte mein Getriebe an, das schaltete in den Leerlauf, meine Motordrehzahl schnellte haushoch, der Wagen schleuderte zur Seite. Dann rettete der Ferrari mein Leben, der mich innen noch einmal touchierte und meinen Wagen wieder geradeaus stieß, sonst wäre ich direkt in eine Böschung geflogen. Stattdessen schleuderte ich in einen Graben, während Willy einen Telegrafenmast traf, der Ferrari sich mehrfach überschlug und in Flammen aufging.“
Trevor Taylor konnte davon humpeln, aber der auch noch gerettete Mairesse verbrachte mehrere Wochen im Krankenhaus bis zur völligen Genesung. „Er lebte in seiner eigenen Welt, do it or die“, rief Taylor dem Belgier noch nach, der sich 1969 in Ostende das Leben nahm. „Er war ein guter Fahrer, aber er wollte zu schnell Meister werden.“ Der Amerikaner Peter Revson, auch wiederholt in Spa Mairesse-Konkurrent, beschrieb ihn so: „Er saß in Spa im Auto mit zerfurchtem Gesicht, vorstehenden Augenbrauen und Augen, die die Farbe wechselten – ein bisschen wie der Teufel selbst.“ Willy Mairesse kam 1963 und 1965 in den 500 km Spa noch zu zwei großen Gesamtsiegen auf Ferrari GTO und Ferrari 250 LM, in Letzterem mit 203,7 km/h Rennschnitt. Er produzierte aber auch bei den verregneten 1000 km-Rennen 1967 im Ferrari 330 P3/4 und 1968 im Ford GT 40, jeweils gemeldet von der Ecurie Francorchamps, weitere Unfälle.
ER „TEILTE“ REGELRECHT DIE WASSERFRONTEN
Als sein Stern schon sank, wurde der 1945 in Brüssel geborene Jacky Ickx neuer belgischer Nationalheld, als Anfang 20-Jähriger genau auch in diesen beiden 1000 km-Rennen mit einer Fahrkunst, die wie eine Götterdämmerung anmutete – er „teilte“ regelrecht die Wasserfronten. Mit dem Mirage M 1 siegte er bereits 1967 im Gesamtklassement in unwiderstehlicher Manier unterstützt vom Amerikaner Dick Thompson, wobei das Gulf-Team im Falle Ickx die volle vom Reglement her erlaubte maximale Lenkzeit pro Turn von drei Stunden am Stück ausnutzte; letztlich saß Ickx bis zum Flaggenfall insgesamt über vier Stunden im Auto…1968 im Gulf-Ford GT 40 setzte er quasi in wieder strömendem Regen noch eins drauf. Schon aus der ersten Runde kam er mit 30 Sekunden Vorsprung zurück, nach der zweiten mit einer Minute (!), nach 20 Runden hatte er alle Konkurrenten außer dem Zweiten, Gerhard Mitter im Porsche 907, überrundet. Er und der Engländer Brian Redman siegten völlig unangefochten mit eineinhalb Runden Vorsprung vor Mitter/Jo Schlesser im Werks-Porsche 907. Außerdem triumphierte Ickx gemeinsam mit Hubert Hahne 1966 bei den 24h Spa im Werks-BMW 2000 TI, und dreimal gewann er auf Ford Mustang und Ford Falcon Sprint den „Coupes de Spa“ für Renntourenwagen 1966, 68 und 69.
Widrige oder wechselnde Witterungsbedingungen bargen in Spa schon aufgrund der Streckenlänge von rund 14 Kilometern noch besondere Tücken, eine davon waren auch die bei Regen glitschigen Kanaldeckel in den Straßen. Legendär ist die Startrunde im belgischen Grand Prix 1966, als das Feld an Start-und-Ziel auf Trockenreifen ins Rennen ging, aber dann im Streckenabschnitt Malmedy-Stavelot ein Gewitter-Platzregen acht Wagen – nahezu die Hälfte des Starterfeldes – von der Fahrbahn „spülte“. Wie durch ein Wunder traf es nur einen Fahrer härter – Jackie Stewart, im Vorjahr an selber Stelle noch Zweiter hinter Jim Clark, der in seinem verbogenen BRM 30 Minuten lang eingeklemmt war und das große Glück im Unglück hatte, das ihm andere Fahrer zu Hilfe eilten. „Ich war im Auto gefangen, übergossen mit Benzin“, beschrieb er das einmal. „Es gab keine Streckenposten, keine medizinische Hilfe. Graham Hill und Bob Bondurant, die ebenfalls hinausgerutscht waren, schraubten mit geborgten Schraubenschlüsseln mein Lenkrad ab und halfen mir aus dem Auto. Ich musste eine weitere halbe Stunde auf den Krankenwagen warten, auf dem Weg ins Krankenhaus nach Lüttich verfuhr sich dann der Fahrer auch noch… In meinem Fall hat mich dieser Unfall angetrieben, den Sport sicherer zu machen.“
„ALS ICH ERSTMALS NACH SPA KAM, DACHTE ICH, ‚DU BIST IM FALSCHEN BUSINESS‘“
Der Engländer Brian Redman, der an einem Rennmorgen in Spa immer „klatschnass geschwitzt aufwachte“, wurde Ende der 60er Jahre dennoch auch ein Spa-Spezialist mit drei Siegen hintereinander bei den 1000 km-Rennen und einem Sieg bei den 500 km 1970. „Als ich 1966 erstmals nach Spa kam, um mit Peter Sutcliffe einen Ford GT 40 zu fahren, war ich nach dem Freitagstraining nahe daran, mich vom Motorsport zurückzuziehen“, bekundete er. „Ich dachte, ich könnte alles fahren überall. Aber als ich nach Spa kam, dachte ich, ‚Du bist im falschen Business.‘. Ich konnte das Tempo bis zu über 300 km/h auf öffentlichen Straßen ohne Leitplanken gar nicht glauben.“ Im belgischen Grand Prix 1968 brach dann in der siebten Runde in der schnellen Kurve „Les Combes“ rechts vorn die Aufhängung an seinem Cooper-BRM. Der Wagen schlidderte an einer Beton-Barriere entlang, wobei Redmans rechter Arm zwischen Barriere und Auto eingeklemmt wurde, und krachte auf einem Parkplatz in einen Vauxhall Velox. Streckenposten bargen ihn aber lebend. „Ich gehörte da schon zu der Hälfte der Fahrer, die Sicherheitsgurte trugen, sonst wäre ich tot gewesen“, so Redman weiter. „Im Krankenhaus in Lüttich sagte der Arzt zu mir: ‚Ihren rechten Arm werden wir sehr wahrscheinlich nicht retten können.‘ Ich bedankte mich und lachte. ‚Warum lachen Sie?’, fragte der Arzt. ‘Weil ich hier bin’, antwortete ich.“ Der mehrfach gebrochene Arm wurde dann doch mit der Operation von Stahlteilen gerettet, Redman konnte seine sehr erfolgreiche Rennkarriere ab 1969 fortsetzen – und gewann unter anderem 1972 in einem Ferrari 312 PB noch einmal die 1000 km Spa…
1967 hatte sein Landsmann Mike Parkes auch einen schweren Sturz in Spa überlebt, im Formel-1-Ferrari Tipo 312 beim belgischen Grand Prix. Aber die Strecke forderte auch in diesem Jahrzehnt ihre Opfer, abseits des Motorradsports auf vier Rädern auch: 1964 Pierre Frescobaldi im Lancia Flavia (24h Spa), 1965 Tony Hegbourne im Alfa Romeo Giulia TZ (500 km Spa), 1967 Karl-Heinz Thiemann im Formel Vau-Apal, Wim Loos und Eric de Keyn in ihren Alfa Romeo (24h Spa) und 1969 Léon Dernier („Elde“) im Mazda Coupé (24h Spa). 1969 erreichte die Grand Prix Drivers Association (GPDA), der Club der Formel-1-Fahrer, eine Absage des belgischen Formel-1-Grand Prix und verlangte eine Verbesserung der Streckensicherheit. Als sie 1970 wieder zurückkehrten, fuhr Jochen Rindt mit dem österreichischen Journalisten und Autor der Jahrbuch-Reihe „Grand Prix Story“, Heinz Prüller, die Strecke ab und diktierte in dessen Notizblock: „Spa ist bei jeder Geschwindigkeit blöd. Bis vor einem Jahr war die Streckenabsicherung gleich Null. Falls am Auto etwas schiefgeht, Öl auf der Strecke ist oder etwas anderes passiert, fliegen wir mit hundertprozentiger Sicherheit gegen die Böschung oder in den Wald. Die Überlebenschance ist sehr gering. Deshalb veranlasste die GPDA, dass Leitplanken montiert werden und dass wir bei Regen nicht fahren. Leider wurden nur 70 Prozent vom verlangten Minimum erfüllt. Aber Spa wird nie sicher sein, sicher wird es erst, wenn wir auf eine andere Rennstrecke übersiedeln.“
Diesen belgischen Grand Prix 1970, den letzten Formel-1-Lauf auf der alten Rennstrecke von Spa-Francorchamps, gewann dann der Mexikaner Pedro Rodriguez im BRM P 153 V12 mit einem Renn-schnitt von nicht weniger als 241,3 km/h. Drei Wochen zuvor hatte er im Training für die 1000 km Spa mit dem Gulf-Werks-Porsche 917 die erste Runde in Spa unter 3.20 Minuten gedreht, 3.19,8 mit einem Schnitt von gar 254,1 km/h. In eben diesem Training erreichten die Deutschen Helmut Kelleners und Jürgen Neuhaus mit einem privaten Porsche 917 in 3.29,7 den vierten Startplatz. „Der Pedro Rodriguez machte es vor,“ erklärte dazu Jürgen Neuhaus einmal, „und wir machten es einfach nach.“
So simpel konnte oder musste vielleicht auch seinerzeit eine Cockpit-Perspektive sein, für Erfolge in Spa gab es eben keine Alternative.
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